Der Bahnpostwagen "6189 Köl"
Der Bahnpostfahrer verteilt und bearbeitet Brief- und Paketsendungen in rollenden Bahnpostwagen. Das war alles, was ich wusste über Bahnpostfahrer, als ich an einem drückend schwülen Juniabend zum Hauptbahnhof in Frankfurt fuhr. Am Mainufer stellte ich meinen Wagen ab. Pärchen flanierten umschlungen durch die Anlagen, in einem Gartenlokal saßen Männer und Frauen bei kühlem Apfelwein und scherzten und lachten. Kurz vorm Bahnhof quietschten Reifen neben mir; Bekannte wollten mich mitnehmen ins Kino.
"Geht nicht, ich muss arbeiten", sagte ich, "ein andermal vielleicht."
"Was issen das für'n Scheißjob, den du hast ?" wurde ich gefragt. "Musst dir mal 'ne vernünftige Arbeit suchen !" meinte ein zierliches blondes Mädchen, Horsts Freundin.
Die Männer sind schon alle da, als ich an den Wagen komme. Nur einer fehlt, der kommt gerade noch rechtzeitig mit hechelndem Atem angerannt, bevor der Zug sich in Bewegung setzt. "War ein Stau nach dem anderen, nicht durchzukommen", entschuldigt er sich bei den Kollegen, die seine Arbeit mitgemacht hatten.
"Hättste dir ja denken können, wo heut die Eintracht gespielt hat", sagt Karl. Das Hemd klebt ihm jetzt schon auf dem nassen Rücken. Den Schweiß, der ihm in die Augen und in die Mundwinkel läuft, den wischt er schon gar nicht mehr ab. Er schleppt schwere Postsäcke quer durch die Ladefläche des Wagens.
Elf Männer arbeiten in dem Wagen. Zwei auf der Ladefläche, die anderen am "Aussacktisch" und am "Verwerfgestell". Es ist eine brütend feuchte Hitze in dem Waggon, fast wie in einer Sauna. Die meisten der Männer arbeiten im Unterhemd. Im Nu hat man einen salzigen Pappfilm auf der Haut, und der Schweiß läuft einem unter den Achselhöhlen raus.
Als der Zug rollt, weht ein wenig Wind durch den Wagen. Das ist im ersten Moment angenehm, wird aber sofort zur unerträglichen Zugluft. Die Türen werden geschlossen. Der Wagen rattert über die unzähligen Weichen vorm Hauptbahnhof, später dann nur noch das monotone Schlagen der Räder auf den Nahtstellen der Gleise.
Ich hatte den Eindruck eines chaotischen Durcheinanders, als ich in den Wagen kletterte. "Das sieht immer so aus", klärte mich ein Kollege auf. Wer zum ersten Mal in einen Bahnpostwagen kommt, sieht erst einmal nur ein heilloses Tohuwabohu. Überall lagern Beutel, Pakete, Zeitungen. In den kleinsten Ecken bis unters Dach sind die Sendungen verstaut. Sogar mitten im Durchgang lagern die Sendungen. Ich krabbele mühsam über die Säcke, um irgendwo einen festen Standplatz zu finden.
Die Bundespost muss an die Bundesbahn für jeden Kilometer, den ein Bahnpostwagen fährt, bezahlen. Gerechnet wird das nach Achskilometern. Ein Achskilometer kostet etwa eine Mark. Da ein Bahnpostwagen vier Achsen hat, sind das etwa vier Mark pro Kilometer und Wagen. Entsprechend sind die Bahnpostwagen gebaut; entsprechend eng, versteht sich. Die Bundespost ist an einer hohen Auslastung der Wagen interessiert.
Auf beiden Seiten des Wagens sind die Säcke bis zur Decke gestapelt. Zwei der Männer schichten ständig um, die zugeladenen Säcke von der Tür weg, die an der nächsten Station auszuladenden Säcke vor die Tür. Man bekommt Platzangst, ist bedrängt von den schweren Leinensäcken; dazu die Hitze. Dreiundvierzig Grad haben die Kollegen gemessen.
Erster Haltbahnhof und Ladungsaustausch. Durch die geöffneten Türen streicht ein angenehmes Lüftchen. Wer kann, kommt Luft schnappen, lässt das Windchen über den schweißnassen Rücken fächeln.
"Bei dieser Hitze angenehm", kommentiert ein Kollege, "aber im Winter frierst du wie ein Pavian, wenn du durchgeschwitzt in der kalten Zugluft arbeitest. Die nächste Grippe kommt bestimmt, von den Hexenschüssen gar nicht erst zu reden."
Ich mache mir Gedanken darüber, ob der Wagen die Kälte im Winter ebenso wenig abhält wie im Sommer die Hitze. Ich frage. Einer antwortet für alle: "Diese dünne Blechverkleidung hält nix ab, die Hitze nicht und die Kälte auch nicht. Wenn dann noch die Heizung ausfällt - und die fällt öfters mal aus - dann Prost Mahlzeit !"
Das Licht flackert, funzelt, wird immer dunkler. Mich beunruhigt das nicht besonders, da wir ja im Bahnhof stehen. Dennoch frage ich einen Kollegen, was los ist. "Nix is los, die Batterie is schwach uff de Brust; wenn mer widder fahr'n, dann brennts Licht widder hell - wenn mer Glück habbe. Manchmal geht's auch ganz aus un bleibt aus."
Ich würge mich durch den Wagen zu den Kollegen, die Briefe sortieren. Es gibt im Bahnpostwagen keine technischen Hilfsmittel wie Förderbänder, Beutelhängebahnen oder Abbindemaschinen. Die Männer müssen ihre fertigen Briefbündel selbst mit der Hand abbinden und sie müssen zum Stapeln und Verwerfen die Beutel alle mit eigener Körperkraft bewegen und hochheben. Das bedeutet für einen "Verwerfer", der in einer Nacht mit noch zwei Kollegen 250 Beutel bearbeitet, dass das Gewicht von 250 Beuteln viermal durch seine Hände geht:
1. auf den Aussacktisch heben,
2. hochheben und ausschütten,
3. die einzelnen Sendungen verwerfen,
4. die Beutel herausziehen und absacken und weitergeben.
Bei einem angenommenen Gewicht von 20 kg je Beutel ergibt das: 250 Beutel mal 20 kg
Das sind 20 Tonnen in einer Nacht. Das ist wahrlich Schwerarbeit, und das in der Hitze dieser Nacht, und das in einem fahrenden Eisenbahnwaggon.
In den Kurven muss man sich immer wieder abstützen, um nicht umzufallen. Manchmal komme ich mir vor wie in einem schlingernden Schiff. Bis zu einem gewissen Grad gewöhnt man sich vielleicht an das Schlingern der Wagen, aber mit der Zeit ...
"Das Arbeiten in den fahrenden Zügen bedeutet nicht nur hin und wieder blaue Flecke, sondern mit der Zeit stellen sich körperliche Schäden ein, besonders an der Bandscheibe", sagt ein Kollege. Ein anderer zeigt seine Beine und weist auf seine Krampfadern hin. "Und nicht nur ich habe Krampfadern, die kriegt jeder hier."
Kaum einer der Männer raucht. Nur nachdem einer sein Brot gemuffelt hat, zündet er sich eine Zigarette an. Auch ich rauche nicht. Dennoch habe ich ein schlimmes Kratzen im Hals, muss oft husten und spucken. Auf der Höhe von Freiburg, nach vier Stunden Fahrt, weiß ich warum: von dem Dreck und Staub in dem Waggon.
Die Haare des Kollegen neben mir sind sichtlich ergraut zwischen Frankfurt und Freiburg. Staub, ordinärer Staub ist schuld daran. "Unter der Dusche werden meine Haare wieder schön dunkelbraun", sagt der Kollege. Zehn Jahre jünger sehe ich dann wieder
"Aber das nützt ihm nichts in Basel, weil er dort kaputt ist, müde, ausgelaugt - und weil die Mädchen selbst in Basel morgens um 4.55 Uhr schlafen", meint ein anderer.
Um 4.55 Uhr läuft der Zug in Basel ein. Ich bin wie gerädert, obwohl ich nichts gearbeitet habe. Ich möchte jetzt nach Hause gehen, duschen, etwas Gutes essen, eine Schallplatte hören. Wir müssen zurück nach Weil fahren, dort ist das Übernachtungsheim. Ein Kollege muss weiterfahren zum Schweizer Bahnhof. Er ist für Wertsachen verantwortlich, muss die übergeben.
Wir lungern auf dem Bahnhof rum, erst in zwanzig Minuten fährt ein Zug nach Weil. "Seid ihr eigentlich jetzt noch im Dienst ?" frage ich die Kollegen.
"Nein, Dienstschluss ist im Badischen Bahnhof", erfahre ich. Ich muss noch einmal nachfragen, kann nicht glauben, was der Kollege gesagt hat. "Hast richtig gehört, wir sind nicht mehr im Dienst. Die Fahrt zurück nach Weil bekommen wir nicht als Dienstzeit gerechnet. Wir haben jetzt zwölf Stunden, bis wir wieder einen Wagen nach Frankfurt bekommen. In diesen zwölf Stunden dürfen wir ruhen, Kräfte sammeln, uns die Beine vertreten, je nachdem. Es soll welche geben, die zwei oder drei Stunden schlafen können während der Zeit. Ich kann es nicht."
Es scheint mir unglaublich, was die Kollegen sagen. Ihr seid doch nicht zu Hause, habt eure Familie nicht, die Familie euch nicht, habt eure Bücher nicht, eure Schallplatten nicht, könnt keinem Hobby nachgehen - was soll euch die Zeit hier ?
"Wir bekommen zehn Minuten pro Stunde dieser Zeit vergütet, das ist alles", sagt ein Kollege.
Der Tag erwacht. Es ist schon hell, aber die Sonne kommt erst jetzt über den Horizont. Die Vögel zwitschern. Das entschädigt für manches, denke ich. Aber wie trostlos muss dieser Weg im Winter sein ? Die Straßen beleben sich langsam. Männer und Frauen, die um sechs Uhr Arbeitsbeginn haben, machen sich auf den Weg. Ich unterhalte mich mit B. Seine Augen sind müde, ohne Glanz, sein Kopf ruht eingezogen zwischen den Schultern. Er schlurft neben mir her wie ein alter Mann, dabei ist er achtunddreißig Jahre alt: "Ist schon ein beschissenes Leben als Bahnpostfahrer, besonders, wenn man älter wird. Vor zehn Jahren hat es mir noch nicht so viel ausgemacht. Heute denke ich oft darüber nach, wie mein Leben verbraucht wird. In der Arbeitszeit passiert eigentlich nichts, was mit dem wirklichen Leben zu tun hat; und ich habe nur ein Leben. Weißt du, das Leben ist wie ein Wiesel, es huscht vorbei und man erwischt es nicht. Ich erwische es nicht; keine Zeit und kein Geld. Zeit aber ist das Wichtigere. Es ist ja eine Binsenweisheit mittlerweile, dass sich das Schicksal des einzelnen zum großen Teil an seinem Arbeitsplatz bestimmt. Mein Schicksal und das meiner Familie ganz gewiss."
Dann bricht es aus ihm heraus: "Wann kann ich mich denn um die drei Kinder kümmern ? Wenn ich wirklich zu Hause bin, dann schlafe ich, dann müssen sie mäuschenstill sein, damit Vater schlafen kann. Wann kann ich denn bummeln mit den Kindern oder spielen ? Ich habe doch nicht mal die Wochenenden mit der Familie. Nach meinem neuen Dienstplan habe ich in dreizehn Wochen nur vier Wochenenden frei. Ich habe fünf Samstage frei, habe neun Sonntage frei, aber ein zusammenhängendes Wochenende nur viermal in dreizehn Wochen. Und wenn ich Mittwoch und Donnerstag frei
Um 15:15 Uhr hat die Gruppe einen Wagen zurück von Basel nach Frankfurt. Einige haben in der Zwischenzeit ein wenig geschlafen. Auch ich habe es versucht. Aber ich konnte lange nicht einschlafen. Als ich zuletzt dann doch in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen bin, muss ich gleich wieder hoch. Ein Kollege hat mich wachgerüttelt. Eine Stunde hatte ich geschlafen. Ich fühle mich schlecht, wie gerädert, mir ist schwindlig, ich habe Kreislaufstörungen.
Die Fahrt zurück nach Basel wird nicht als Arbeitszeit gerechnet. Der Kollege, der zum Schweizer Bahnhof musste, ist schon früher gefahren. Vom Badischen zum Schweizer Bahnhof muss er mit der Straßenbahn fahren. Die Straßenbahn muss er selbst bezahlen.
Während der Fahrt zurück nach Frankfurt arbeiten die Männer wie in der Nacht zuvor auf der Hinfahrt. Ich sitze in einer Ecke und döse vor mich hin, frage nicht mehr viel, bin ziemlich interesselos. Ich schäme mich. Wie halten die Männer das über Jahre hin aus, frage ich mich. Ich rapple mich noch einmal auf und stelle dumme Fragen.
"Auf Dauer hält man es nicht aus, nicht ohne Schaden zu nehmen an Leib und Seele", sagt einer. "Magenbeschwerden, Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen bis Migräne, das haben wir doch alle; und ein schlechtes Gewissen der Familie gegenüber haben wir noch zusätzlich. Eigentlich sind wir doch alle schlechte Ehemänner und Väter. Zwangsläufig, wir können doch kaum etwas dafür. Mich haben die Kollegen in den Amtsgruppenvorstand gewählt. Selbst da entwickle ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht an jeder Sitzung teilnehmen kann."
Ich verabrede mich mit einem Kollegen bei sich zu Hause; ich will hören, was seine Ehefrau zu dem Dienst ihres Mannes zu sagen hat. An einem Samstagvormittag sitze ich bei ihm im Wohnzimmer. Die Frau schenkt Apfelwein ein, setzt sich zu uns, erzählt: "Die Kinder habe ich doch allein. Zu den Elternabenden in der Schule gehe ich meistens allein. Unsere Freundschaften, Bekanntschaften leiden sehr. Geburtstagsfeiern und andere Feste werden oft auf Freitag verlegt. Aber meist hat mein Mann dann Dienst, oder er muss früh um vier Uhr zum Dienst, oder er kommt erst um 22 Uhr vom Dienst. Früher bin ich dann manchmal allein hingegangen, heute gehen wir nicht mehr hin. Wir sind seit zehn Jahren in einem Kegelclub. Jeden Donnerstag wird gekegelt. Nur jedes dritte Mal erscheinen wir gemeinsam dort. Am politischen, sozialen und gesellschaftlichen Leben können wir so gut wie nicht teilnehmen. Mein Mann kann nicht mehr schlafen. Stundenlang dreht er sich neben mir im Bett, bis er einschläft. Manchmal steht er nachts um drei Uhr auf und setzt sich ins Wohnzimmer und raucht und liest etwas. Einen Fortbildungslehrgang wollte er machen; es ist unmöglich bei seinem Dienst. Ich wäre dafür, den Schichtdienst bei der Bahnpost ganz abzuschaffen. Ob dies möglich ist, weiß ich nicht. Ob unsere Männer das so rigoros wollen, weiß ich auch nicht. Ich rede als Frau und als Betroffene eines Schichtarbeiters. Vielleicht käme die Post dann überall einen Tag später an, aber wäre das so schlimm ? Mein Vater war auch bei der Post. Damals wurde noch sonntags Post ausgetragen, sogar zweimal an einem Tag. Heute denkt sich niemand etwas dabei, wenn an Feiertagen und sonntags keine Post kommt. Ich will ein ganz normales Familienleben haben mit meinem Mann und meinen Kindern. Ist das etwa zuviel verlangt ?"
Quelle:
Heinrich Droege: Ihr habt nicht zuviel Zeit
Büchergilde Gutenberg, 1983 / ISBN 3-7632-2770-9
Nacherzählt von mvdv
Wiedergabe mit freundlicher Einwilligung des Autors